New Vienna - ein geniales Konzert von Keith Jarrett

Vermutlich werden Fans bei Live-Mitschnitten von Keith Jarrett nicht nur an das legendäre "Köln Concert" denken, sondern bei dem Stichwort Wien auch an die CD "Vienna Concert", aufgenommen am 13. Juli 1991 in der Wiener Staatsoper. 25 Jahre später kam Jarrett also wieder nach Wien und dann natürlich an einen so historischen Ort, der für seine aussergewöhnliche Akustik bekannt ist.

Die Veröffentlichung der Schallplatte "New Vienna" ist in vielerlei Hinsicht etwas ganz Besonderes. Zum einen erscheint sie nur kurze Zeit nach Keith Jarretts 80. Geburtstag. Zum anderen unterscheidet sie sich musikalisch deutlich von Alben wie "Köln Concert" oder "Bremen/Lausanne", die vor allem durch ausgedehnte Improvisationen geprägt sind.

Zwar ist "New Vienna" ebenfalls in neun durchnummerierte Teile gegliedert, doch jeder davon hat einen ganz eigenen Charakter. Der Auftakt, Part I, ist mit knapp 11 Minuten nicht nur der längste Abschnitt, sondern auch ein fulminanter Einstieg. Jarrett fordert sein Publikum direkt mit einer virtuosen Performance, jagt scheinbar mühelos über die Tasten, wobei besonders die dunklen Klänge beeindruckend zur Geltung kommen.

Bereits hier wird die außergewöhnliche Akustik des Goldenen Saals spürbar, ebenso wie die makellose Klangqualität der Aufnahme. Doch was mich wirklich tief beeindruckte, war die einzigartige Energie, die Jarrett ausstrahlt. Er schafft es, scheinbar wild durcheinander gewürfelte Noten in harmonische Klangbilder zu verwandeln, jongliert mit Klang-Kaskaden und bringt immer wieder alles in ein perfektes Gleichgewicht.

Als Part I endete, verharrte das Publikum für einen Moment in atemloser Stille, bevor es in tosenden Beifall ausbrach – ein Beweis für die Intensität dieses Erlebnisses.

Part II ist erst einmal der Gegenpart dazu, ein stilles, fast meditatives Durchschnaufen, für das sich Jarrett Zeit nimmt und jeder Note genug Raum zur Entfaltung lässt. Auf diese Weise entspannt und geerdet betont er in Part 3 die Rhythmen, wobei die rechte und linke Hand spannende Diskurse bestreiten - für mich neben dem ersten Stück eines der Highlights dieser Platte und zugleich ein exemplarisches Beispiel des Genius dieses Pianisten.

Die zweite LP-Seite mit den Parts IV und V zeigt eine ganz andere Seite des Künstlers: zarte, lyrische Balladen, die pure Emotion verkörpern. Seite 3 hingegen wird wieder abstrakter, insbesondere in Part VI, wo die Noten wild umherzuwirbeln scheinen, jedoch bei gemächlichem Tempo. Part VII entwickelt sich dann deutlich melodiöser – ein Moment, der Erinnerungen an das "Köln Concert" weckt und mit tosendem Applaus belohnt wurde.

Auf Seite 4 präsentiert Jarrett eindrucksvoll sein meisterhaftes Gespür für unterschiedliche Musikstile. In Part VIII interpretiert er den Blues so authentisch, dass selbst Legenden wie Robert Johnson oder Howlin’ Wolf wohl ihre Freude daran gehabt hätten. Und da Blues historisch eng mit Gospel verbunden ist, ergänzt Part IX diese Stimmung perfekt. Zum krönenden Abschluss bietet die Zugabe eine wundervolle Version von Harold Arlens Klassiker "Somewhere Over The Rainbow" – ein wahrhaft magisches Finale für diese außergewöhnliche Live-Aufnahme eines der größten Musiker unserer Zeit, Keith Jarrett!

• Keith Jarrett - Piano