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Das beeindruckende Plattencover von Henrik Freischlader

Wir schreiben das Jahr 2022, die ganze Musikwelt streamt. Nein, nicht alle - eine kleine Gemeinde hält die analoge Fahne hoch. Eine kleine? So ganz bescheiden ist die Welt der schwarzen und immer häufiger bunten LPs keineswegs, die Schar der Vinyl-Fans wächst aller digitaler Übermacht zum Trotz stetig an. Woran liegt das, weshalb ist die Schallplatte so beliebt? Eine vom BVMI initiierte Untersuchung ging dieser Frage konkret nach.

 

Der Gegenpol zur Digitalisierung: die Schallplatte

Vinyl Umsatz 2010 2021Grafik: BVMI/GFK

Die Zahlen sprechen Bände: in den letzten zehn Jahren hat sich die Menge der (offiziell) verkauften Schallplatten vervierfacht. Alleine in den beiden Pandemie-Jahren 2020 und 2021 gab es einen Zuwächse für Vinyl von 24,7%* bzw. 20,1%*. Auch wenn sich der Anteil am gesamten Musikmarkt von derzeit 6 Prozent optisch bescheiden ausnimmt, so ist die LP neben dem dominanten Streaming (Anteil 2021 bei 76,4%*) dennoch das einzige Segment mit stetigen Zuwächsen. Schon alleine wegen des anhaltenden Trend lohnt sich der Blick auf die Hintergründe, die für die hohe Nachfrage verantwortlich sind.
Deshalb gab es Ende 2021 eine Online-Befragung im Auftrag des BVMI, durchgeführt im GfK Consumer Panel zum Thema, welches allerdings unter der unglücklichen Überschrift „Das Comeback der Schallplatte“ steht. Denn ein Comeback ist es aus verschiedenen Gründen keineswegs, eher schon so etwas wie „Die Schallplatte ist en vogue“ oder „Die Schallplatte lebt und gedeiht“.

In dem Bericht des BVMI (unten findet ihr den Link) wird nun - mit Zahlen unterlegt - näher auf die Gründe eingegangen, warum die Vinyl Schallplatte trotz des Anfang der 90er apostrophierten Sterben nicht nur weiterhin vital lebt, sondern in der USA, dem größten Musikmarkt der Welt, sogar den Umsatz der CD überholt hat. Beleuchtet wurden bei der Umfrage der GFK u.a. die Interessengruppen, die Altersstruktur, die grundsätzlichen Motivationen der Käufer und die bevorzugten Musikstile. Unterschieden wird hier meines Wissens erstmals von tatsächlichen Käufern neuer Schallplatten (was ja Basis für die genannten Verkaufszahlen ist) und von sogenannten Sympathisanten, die entweder vorwiegend Second Hand Platten kaufen oder (und das ist die dritte Gruppe) zumindest in Erwägung ziehen, sich wieder Vinyl zu kaufen.

Da ich den BVMI-Bericht hier nicht zitieren, sondern aus meiner Sicht interpretieren möchte, richte ich also den Blick auf folgende, sehr interessante Aspekte.

 

Der Markt neuer und gebrauchter LPs

Vinyl InteressensgruppenGrafik: BVMI/GFK

Wie ich hier im Blog bereits mehrfach erwähnt habe, dass die offiziellen Verkaufszahlen stets nur den Markt neuer LPs in Deutschland berücksichtigen, so gibt es den nicht erfassten, keineswegs unerheblichen Anteil an Import-LPs und Direktverkäufe bei Konzerten sowie den wohl selten angegebenen Absatz der Musiker an ihre Fans selbst. Doch weit größer ist der Bereich des Second Hand Vinyl und da greift nun erfreulicherweise auch die Umfrage des GFK. Denn der soll den Angaben zufolge doppelt so hoch sein. Spannend wäre an dieser Stelle gewesen, wie groß die jeweiligen durchschnittlichen Warenkörbe der beiden Gruppen neues Vinyl und Second Hand sind. Die dritte erfasste Gruppe sind die Interessenten für Vinyl bzw. Nutzer vorhandener Schallplatten und diese ist wohl sogar noch erheblich größer, da ist also viel Potential. Um die Auslastung der Plattenpresswerke muss man sich demnach keine Sorgen machen, eher schon um die damit verbundenen und bereits aktuell erheblichen Probleme (darüber habe ich bereits berichtet: „Vinyl Umsatz legt 2021 zu - LP bald die Nr. 1?“).

Kleine Info dazu am Rande: die aktuell bei PhonoNet gelisteten LPs (also keine Singles oder Maxi-Singles) belaufen sich auf über 40.000 Titel, die monatlichen Neu-Einträge in diesem Jahr (inkl. Reissues/Wiederauflagen) liegen zwischen 571 (Januar 2022) bis 938 (April 2022) LPs**!

Unerwartet von mir war eine Erkenntnis der Umfrage: der Anteil junger Vinyl-Käufer ist erstaunlich hoch. Ich hatte erwartet, dass diese Kids eher ein Interesse an gebrauchten Platten hätten, anscheinend schreckt sie der teils doch recht hohe Preis neuer LPs gar nicht so sehr. Wir sprechen demnach bei den 14-29-Jährigen von 20,7%* am Gesamtkuchen. Wenig überraschend ist der 29.2%-Anteil* der 50-59 Jahre alten Käuferschicht.

OK, bislang habe ich lediglich die Zahlen und Erkenntnisse dazu betrachtet, die der Beitrag des BVMI offenbart. Die Eingangsfrage „Warum die Schallplatte so beliebt ist“ ist allerdings zentral und soll daher hier endlich näher beleuchtet werden. Und auch da gibt die Umfrage interessanten her.

 

Motive, eine Schallplatte zu kaufen

Als wesentliche Gründe, warum auch heute noch die „gute, alte Schallplatte“ immer noch so beliebt ist, werden häufig der „analoge, warme“ Klang und das so heimelige Knistern genannte, letzteres wohl mit einen gewissen nostalgisch-romantischen Gefühl. Viele schätzen auch das haptische Erlebnis, das sich meist mit den Plattencover und den Beilagen verbindet, aber auch dem Zelebrieren des Plattenauflegen. Genau dies wissen auch die Plattenfirmen und bringen immer häufiger entsprechend aufwändig gestaltete Klappcover oder Boxen heraus, eines davon ist oben zu sehen (Freischladers 2020er Werk „Missing Pieces“ mit einen Tripel-Gatefold, ausgestanzter Front und gleich 13 Einlageblätter).

 

Die LP als Kulturgut

Kultur MotivationstreiberGrafik: BVMI/GFK

In der Umfrage hatte die GFK den Befragten auch eine Frage gestellt (Positive Motivationstreiber), zu der zehn verschiedene Antworten vorgegeben waren. In der Auswertung hat man schließlich wieder nach den fünf Altersgruppen unterschieden. Erstaunliches Ergebnis war, dass sich nahezu alle mit großer Prozentzahl einig waren, dass der Schallplatte als „Kultur/kulturelles Statussymbol“ eine wesentliche Bedeutung zukommt. Und das mit 81% sogar am häufigsten bei den 14-24 Jährigen. Etwas, das ich schon seit langem in meinem Blog voranstelle, nämlich den kulturellen Aspekt, der meines Erachtens durch die LP sehr gut transportiert wird, steht also tatsächlich auch im Blick der Jüngeren, das freut mich!

Dass in Zeiten von Streaming ein Gegenpol zum Digitalen ein natürliches Bedürfnis darstellt, dürfte wohl auch eines der wesentlichen Gründe für den Erfolg der Schallplatte darstellen. In der Umfrage wird die LP auch als „Lifestyle-Produkt zum Anfassen“ bezeichnet und das bewerteten fast alle Altersgruppen relativ hoch. Und zumindest die Älteren sehen, „Streaming ist zu flüchtig“ und schätzen daher die Platte als beständigen Tonträger. Selbst die Jungen sehen die „Wärme in technisch kalter Welt“ - erstaunlich oder?

Etwas, das die Plattenindustrie sicherlich freut: alle Vinyl-Käufer-Generationen geben „Hobby/Sammelleidenschaft“ als bedeutend an. Entsprechend reagieren die Firmen seit Jahren: besondere Fan-Editions mit Bonusmaterial, Boxen-Sets, limitierten Auflagen, Neuheiten in verschiedenen Farben und Splatter-Vinyl etc.
Und dem Motivationstreiber „Besserer Raumklang“ wird seit langem mit audiophilen LPs Rechnung getragen, was auch mit einer gewissen Labeltreue einher geht. Liebhaber des guten Klang wissen, bei welchen Plattenfirmen sie hohe Qualität erwarten dürfen. Da werden dann schon mal blind neue Veröffentlichungen gekauft, auch wenn man den Interpreten bzw. die Band nicht kennt.

Und noch eine Zahl am Rande, hier betreffend die Hifi-Branche, die von dem Run auf die LPs profitiert: laut gfu Consumer und Home Electronics GmbH wurden 2020 rund 160.000 Plattenspieler verkauft***! Auch nicht schlecht…
Übrigens: es wird geschätzt, dass in deutschen Haushalten über 1 Milliarde Vinyl-Schallplatten vorhanden sind.

 

Es rockt auf analogen Hifi-Anlagen

Betrachtet man die Charts, so findet man sehr oft HipHop- und Popmusik-Titel ganz oben. Die Auswertung der GFK zeigt jedoch ein etwas anderes Bild: mit Abstand ist Rock das beliebteste Genre, laut GFK bei 44,7%*. Wobei ich anmerken darf, dass Rock doch ein sehr breites Feld ist, vom klassischem Hardrock, Adultrock über Prog- und Psychedelic zu Metal und Alternative. Der durchaus populäre Bereich des Poprock ist hier dem zweiterfolgreichsten Bereich des Pop zugeordnet, der immerhin 22,1%* erreicht.

 

Fazit

Im Großen und Ganzen zeigt der Bericht des BVMI eine gute Zusammenfassung dessen, was Leidenschaften und Affinitäten der Vinyl-Fans bedeuten. Ein paar überraschende Informationen sind dabei, zumindest erklärt es Aussenstehenden ganz gut, weshalb gerade in unseren schnelllebigen, durchgetakteten Zeiten die Menschen einen ruhenden Gegenpol suchen. Da darf es schon mal knistern und nach rund 15-20 Minuten muss man auch noch die Platte umdrehen, um Weiterhören zu können.
Ein ganz wesentlicher Aspekt ist bei dem Beitrag jedoch nicht berücksichtigt worden: Schallplatte hören ist für Analog-Fans ein ganzheitliches Erlebnis und vor allem bewusstes Hören. Im Gegensatz dazu bedeutet für viele digitales Hören mit Tracks selektieren und Playlisten eher Konsum und oberflächliches Wahrnehmen des künstlerischen Ausdruckes. s

 

*Quelle: BVMI / GFK
**Quelle: Musicline / PhonoNet
***Quelle: gfu Consumer und Home Electronics GmbH