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Chrissie Hynde kann auch anders

Eine Band und ein großes Orchester spielen Musik, die Themen der 50er und 60er Jahre aufgreift, das ist heute an sich nichts besonderes. Sehr wohl aber, wenn eine Rockmusikerin wie Chrissie Hynde am Mikrofon steht! Die Sängerin von den Pretenders hat mit "Valve Bone Woe" ein Cover-Album geschaffen, das so überraschend anders ist. Die Review zur Vinyl-Ausgabe.

 

Chrissie Hynde - Valve Bone Woe (LP, 180g Vinyl)

In den 60er Jahren musste der zuvor sehr populäre Jazz im Mainstream-Bereich immer mehr dem Rock und Pop weichen, auch wenn seine stilistischen Äste wie der Jazzrock oder Acid Jazz nach wie vor seine Blüten trieb. Heute ist es genau umgekehrt, viele große Künstler finden den Weg zurück zum Jazz. Und wer es sich leisten kann, engagiert auch gleich mal ein großes Orchester, so geschehen bei Chrissie Hynde. Für ihr neues Album „Valve Bone Woe“ hatte sie gleich mal 55 Musiker neben sich im Studio!

 

Valve Bone Woe - Mehr als Jazz

Chrissie Hynde Valve Bone Woe VinylAuf dem Programm standen Kompositionen aus verschiedenen Jahrzehnten und auch aus teils recht unterschiedlichen musikalischen Genres: Brian Wilson, Frank Sinatra, Hoagy Carmichael, Antônio Carlos Jobim, Charlie Mingus, John Coltrane, Nick Drake, Ray Davies sowie Rogers & Hammerstein und Charles Trenet. Auch wenn der Oberbegriff Jazz durchaus gelten kann, so zeigen die einzelnen Songs doch deutlich ein stilistisches Eigenleben und offenbaren andere Elemente.

Was ich aber zentral sehr bemerkenswert finde, ist der Gesang von Chrissie Hynde: ihre sanfte und sehr angenehme Stimme klingt hier, als hätte sie nie etwas anderes gemacht als Jazz-Gesang mit großen Orchestern. Chrissie Hynde im Geiste von Nancy Sinatra, Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan oder Cassandra Wilson - wer hätte das gedacht?

Zusammen mit ihren Produzenten Marius de Vries und Eldad Guetta entwarf sie ein Werk, das einerseits erhaben und großflächig wirkt, andererseits so viele raffinierte Einlagen bietet, dass man da wenig Vergleichbares auf dem grenzlos scheinenden Musikmarkt findet. Schwerpunkt sind bei diesen 14 Songs eindeutig die Melodien, in den Augen von Chrissie scheint der heutigen populären Musik das Melodische ohnehin etwas abhanden zu kommen. Sie schafft hier ein wahrhaft gelungenes Gegengewicht.

Auch wenn der Einstieg mit dem Nancy Wilson-Hit (1964) „How Glad I Am“ noch durchaus an The Pretenders erinnert, so kommen zumindest durch die Bläser und zum Schluss hin opulenter Big Band-Einsatz die jazzige Version zum tragen. Die Brian Wilson-Komposition „Caroline, No“ wirkt anfangs wie eine Dub-Nummer, fährt aber in die Balladen-Schiene. Bereits hier tauchen die Synthesizer-Spielereien und Effekte von Marius de Vries auf, die wir immer wieder bei verschiedenen späteren Tracks erleben. Anschließend beweist Chrissie, wie sie gesanglich im Stile der Alten brillieren kann: Frank Sinatras „I’m A Fool To Want You“ - mit Einsatz des großen Streichorchesters und Piano, sehr klassisch. Die Streicher sind übrigens nicht bei jedem Stück zu hören, das Album zeigt sich also überaus wandlungsfähig.

So z.B. mit der berühmten Charles Mingus-Nummer „Meditation On A Pair Of Wire Cutters“, die mit einem perkussiven Intro eine geheimnisvolle Stimmung erzeugt. Wuchtige Trommeln und der tranceartige Rhythmus sowie der wortlose Gesang lassen vergessen, dass die knapp 20 Minuten von Mingus auf 3:20 Minuten bei Chrissie Hynde komprimiert wurde. „Once I Loved“ wurde von einem Latin-Song hin zur lasziv gesungenen Version mit Orchesterbegleitung transferiert. „Wild Is The Wind“ ist eines der eigenwilligsten Versionen des ganzen Albums: ein schauriges Intro bewegt sich - begleitet mit einer Trompete - in sanfte, kineastische Regionen.

Bei „You Don’t Know What Love Is“ erleben wir Chrissies Stimme sehr sexy. So wie sie hier die Vokale dehnt, das ist schon große Klasse, eine perfekt inszenierte intime Jazz-Ballade. Nick Drakes „River Man“ ist ebenfalls schlicht, aber dennoch raffiniert arrangiert. Mit kleiner Jazzbesetzung und anfangs dezenter Bläserbegleitung gespielt, dazwischen auch mit Streichern garniert. „Absent Minded Me“ schließt unmittelbar an, gesanglich von Chrissie gar nicht so weit weg von der 1964er Version mit Barbra Streisand. Doch zum letzten Drittel wandelt sich der gemütliche Orchestersound zu einem kakophonischen Geräusche-Wirrwarr, eines der Beispiele für den Variantenreichtum in der Inszenierung.

John Coltrane legendäres „Naima“ ist sanft angelegt, mit Gitarre, Bass, Schlagzeug sowie ein kaum zu hörendes Stimmenkollagen, später dann mit Keyboard verspielt und mit Streichern elegant inszeniert. Chrissie Hynde singt bei dieser Nummer nicht mit, sehr schön und melodisch jedoch in „Hello, Young Lovers“. Der Charakter einer American Songbook-Komposition ist ansatzweise erkennbar, ansonsten von dem clever agierenden Ensemble aber sehr variabel ausgelegt. Der Kinks-Hit „No Return“ ist hier als eine lässig-leichte Nummer adaptiert, mit brasilianischem Flair. Den Abschluss bildet die passend in französisch gesungene Charles Trenet-Komposition „Que Reste-t-il de nos Amours?“.

Chrissie Hynde Valve Bone Woe Plattencover

Die beiden LPs klingen sehr geschmeidig, tieftönend und angesichts des opulenten Orchester-Klangkörper sehr ausgewogen, ausbalanciert. Dies mag wohl auch am Aufnahmeort liegen: dem Air Studios in London. ich vermute, dass aufgrund des riesigen Ensembles das Ganze in der Lyndhurst Hall stattgefunden hat, die bekanntlich über eine großartige Akustik verfügt. Die Pressung der beiden Schallplatten ist überzeugend, sie stecken in gefütterten Innenhüllen und einen schön aufmachten Klappcover.

 

Fakten

Erstveröffentlichung: 6. September 2019
Label: BMG Rights Management
Bestell-Nummer: 538504491
Pressung: Takt, Polen
Inhalt: 2x180g Vinyl
Besonderheit: Klappcover

 

Besetzung

Chrissie Hynde - vocals
David Hartley - piano
James Walbourne - guitar
Eldad Guetta - keyboards, guitar, trumpet, bass, percussion
Liran Donin - bass
Ian Thomas - drums

Marius de Vries - synthesizer, piano
Matt Robertson - keyboards
Peter Roth - nylon string guitar

The Valve Bone Woe Orchestra

Aufnahmen in den Air Studios in London, UK


Trackliste

Seite 1

1. How Glad I Am (Jimmy Williams, Larry Harrison)
2. Caroline, No (Tony Asher, Brian Wilson)
3. I’m A Fool To Want You (Frank Sinatra, Joel Herron, Jack Wolf)
4. I Get Along Without You Very Well (Except Sometimes) (Hoagy Carmichael)

Seite 2

5. Meditation On A Pair Of Wire Cutters (Charles Mingus)
6. Once I Loved (Norman Gimbel, Vinicius De Moraes, Antonio Jobim)
7. Wild Is The Wind (Ned Washington, Dimitri Tiomkin)

Seite 3

8. You Don’t Know What Love Is (Don Raye, Gene De Paul)
9. River Man (Nick Drake)
10. Absent Minded Me (Jule Styne, Bob Merrill)

Seite 4

11. Naima (John Coltrane)
12. Hello, Young Lovers (Richard Rogers, Oscar Hammerstein II)
13. No Return (Ray Davies)
14. Que Reste-t-il de nos Amours? (Charles Trenet)